Nie Schwimmen gelernt

TABUTHEMA ⋅ Sie sind unterschiedlich alt und haben andere Nationalitäten. In einem sind sie aber gleich – alle sind erwachsen und besuchten bislang keinen Schwimmunterricht. Das holen sie jetzt nach. Mit viel Willen.

Angelina Donati –  St. Galler Tagblatt
Längen ziehen im Schwimmbad, schnorcheln im Meer und den farbenfrohen Fischen nachjagen oder einfach vom Bodenseeufer zum nächstgelegenen Floss crawlen: Was für Gross und Klein in der Schweiz heutzutage eine Selbstverständlichkeit sein dürfte, stellt aber auch einige vor unüberwindbare Hürden. Dass es nämlich Erwachsene gibt, die nie schwimmen gelernt haben, wird gerne ausgeblendet. Oder fast schon tabuisiert.

«Was, wirklich – du kannst nicht schwimmen?», sei eine gängige Bemerkung, sagt der einzige männliche Kursteilnehmer, der sich an diesem Abend im Hallenbad Rosenau in Gossau eingefunden hat. Mit sieben anderen Kursteilnehmerinnen lernt er bei Trainerin Anna Allenspach vom Schwimmclub Flipper, seine Angst vor dem tiefen Wasser abzubauen. Als Verein mit dem Label «Sport-verein-t» trägt Flipper dazu bei, Personen aller Nationen und auch Nichtschwimmer zu integrieren und zu fördern. So unterschiedlich Alter, Nationalität und Hintergründe der Teilnehmer sind, verfolgen sie doch alle dasselbe Ziel: Endlich schwimmen zu können. Mit der Anmeldung haben sie einen für sie schwierigen Schritt bereits gemeistert. «‹Mami, du musst unbedingt schwimmen lernen. Du schaffst das›, haben mich meine Töchter ermutigt», sagt eine Teilnehmerin. Seit Jahren schon lebt sie in Rorschach, ursprünglich kommt sie aus Portugal. «Im Dorf, wo ich aufgewachsen bin, hatten wir kein Schwimmbad.» So oder so sei Schwimmen nie ein Thema gewesen. Deshalb habe sie grossen Respekt vor dem Wasser. «Meine Kinder aber schwimmen wie Fische», sagt sie stolz. Bereits jetzt freue sie sich darauf, dereinst mit ihnen zu planschen.

Zu viel Köpfchen kann blockierend wirken
Der Respekt vor dem Wasser sei auch bei vielen Kindern spürbar, die schwimmen lernen, sagt Trainerin Anna Allenspach. Etwa im Alter von vier oder fünf Jahren werde einem im Normalfall das Schwimmen beigebracht. «Der grosse Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen besteht darin, dass Kinder sich reflexartig im Wasser bewegen. Die Erwachsenen hingegen hinterfragen zuerst jeden Vorgang und wollen alles genau wissen.» Zu viel Köpfchen könne aber auch blockieren. Etwa dann, wenn es beim Eintauchen um das Timing des Ein- und Ausatmens gehe. «Noch vor einer Woche wäre das Tauchen mit den Kursteilnehmern undenkbar gewesen», erzählt Anna Allenspach. «Die Fortschritte, die sie machen, sind aber riesig», sagt sie und zeigt auf die Teilnehmer, die sich im Kinderbecken mit einer Poolnudel vom Schwimmbeckenrand abstossen und den Kopf unter Wasser halten.

Teilnehmer motivieren sich gegenseitig
«Schwimmen zu können, ist ein lang gehegter Wunsch von mir», sagt eine Teilnehmerin, die in der Region aufgewachsen ist. Während des Schwimmunterrichts habe ihre frühere Schulklasse meist geschwänzt. «Unsere Clique stand immer abseits vom Schwimmbecken. Wir plauderten lieber und erfanden Ausreden, um dieser Lektion fern zu bleiben», sagt sie. Jetzt, mit 39 Jahren, will sie alles nachholen. Und auch ihre Kleinkinder will sie zur entsprechenden Zeit ans Wasser heranführen. Auch beim einzigen Mann in der Runde fand das Schwimmen früher keine Beachtung. Aufgewachsen ist er im Bündnerland, wo man anstatt Längen im Schwimmbad einfach die Skipiste runterfuhr, wie er sagt. «Notgedrungen kann ich mich zwar ein paar Meter über Wasser halten. Aber nur mit grossem Kraftaufwand.» Sein grosser Wunsch ist es, mit seiner Frau und den Söhnen endlich auch mal ins Wasser zu springen und zu schwimmen – sei es in der Badi oder auch im Bodensee. An der Technik feilen möchte auch eine 20-jährige Frau, die mit ihrer Familie vor kurzem von Rumänien in die Schweiz gezogen ist. «Schwimmunterricht gab es bei uns nicht. Ich möchte es darum richtig lernen.»

Schritt für Schritt werden die Kursteilnehmer an die Technik des Schwimmens herangeführt. Doch sie haben noch einen langen Weg vor sich. Dass jeder bereits nach acht Lektionen erste Längen im tiefen Bassin zurücklegen könne, sei nicht sicher, sagt Anna Allenspach. «Schwimmen lernen ist wie Laufen lernen.» Ein Prozess eben. Die Teilnehmer aber zeigen grossen Willen. Und sie helfen und motivieren sich gegenseitig. Auch die Freude kommt nicht zu kurz: Immer wieder ist schallendes Gelächter zu hören. «Wenn sie ihr Ziel erreicht haben, sind die Emotionen dementsprechend gross. Gar noch grösser als bei Kindern. Erwachsene sind sich dann richtig bewusst, zu was sie fähig sind und sind stolz auf sich.»